Vorwort
Ausgehend von der wirtschaftlichen Entwicklung Liechtensteins in den vergangenen 100 Jahren könnte man annehmen, dass immer alles besser wird. Neben der Wirtschaft hat sich auch gesellschaftlich und rechtlich einiges verändert. Die Liechtensteinerinnen, die sich seit Jahrzehnten für die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen und Männern einsetzen, haben viel Grundlegendes erreicht, was den jungen Liechtensteinerinnen und Liechtensteinern von heute selbstverständlich erscheint. Etwa die Erlangung des Wahl- und Stimmrechts der Frauen vor 41 Jahren, die Beseitigung der geschlechtsspezifischen ehelichen Pflichten vor 32 Jahren und vor 24 Jahren die Einführung der Strafbarkeit der Vergewaltigung unter Anwendung schwerer Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger schwerer Gefahr für Leib oder Leben auch innerhalb der Ehe.
Nichtsdestotrotz sehe ich mich in Liechtenstein regelmässig mit sexistischer Herabwürdigung konfrontiert. Von Mikroaggressionen an der Bushaltestelle über eine Medienlandschaft, die sich regelmässig veralteter Stereotypen bedient, bis hin zu mangelnder Repräsentanz und Akzeptanz in den politischen und wirtschaftlichen Führungsebenen. Mit Erreichen des sozialen gebärfähigen Alters eskalierte die sexistische Herabwürdigung dahingehend, dass ich mich regelmässig mit der Annahme konfrontiert sehe, ich würde mich ja sowieso bald prioritär Haus und Hof widmen und die Grenzen meines Horizonts würden ebenda für immer enden.
Die Herabwürdigung besteht nicht darin, dass die sogenannte unbezahlte Care-Arbeit weniger wert ist als bezahlte Arbeit. Care-Arbeit ist aus wirtschaftlicher und sozialer Perspektive absolut unerlässlich und kann auf persönlicher Ebene zutiefst sinnstiftend und erfüllend sein. Die sexistische Herabwürdigung besteht darin, dass oft stillschweigend und ungeachtet persönlicher Wünsche und Ziele von Frauen erwartet wird, dass sie die Verantwortung für unbezahlte Arbeit übernehmen, den Grossteil ihrer Zeit und Energie darin investieren und dafür ihre persönlichen Bedürfnisse zurückstellen.
Wenn sich eine Frau trotz oder gerade aufgrund ihrer persönlichen Wünsche und Ziele dafür entscheidet, den Grossteil ihrer Zeit und Energie in unbezahlte Care-Arbeit zu investieren, zieht sich die sexistische Herabwürdigung weiter, wenn die jahrelange Arbeit persönlich, finanziell und/ oder strukturell nicht gewürdigt wird. Wenn der unbezahlten Care-Arbeiterin nicht auf Augenhöhe begegnet wird, sie keinen Zugang zu den Haushaltseinkünften hat und/ oder ihre Zukunft trotz jahrelanger Arbeit nicht finanziell abgesichert ist, oder wenn eine Mutter nicht mehr vorrangig als Mensch mit persönlichen Wünschen und Zielen behandelt wird. Die traditionelle Vorstellung der Ehe, die vor 32 Jahren im Ehegesetz mit der Idee der partnerschaftlichen Gemeinschaft ersetzt wurde, lebt in der institutionellen Altersvorsorge und in vielen Köpfen unbeschadet weiter.
Die fortwährende sexistische Herabwürdigung und finanzielle Benachteiligung von Frauen in Liechtenstein zeigt, dass die bewusste Verpflichtung für die gleichen Rechte von Frauen und Männern nicht gesichert ist. Im Gegenteil: Stimmen, welche es als vorherbestimmt ansehen, dass sich Frauen Männern unterwerfen und für sie unbezahlte und ungewürdigte Arbeit leisten, werden legitimiert und normalisiert. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nichts, was man mit ein paar Gesetzesänderungen abhaken kann, sondern bedürfen tagtäglich dem Einsatz und der bewussten Verpflichtung aller Mitglieder einer Gesellschaft.
Auch das Arbeitsleben ist nicht frei von sexistischer Herabwürdigung. Die Geschäftsstelle der infra wurde 2024 reichlich damit konfrontiert. Jahr für Jahr leisten Petra Eichele, Karin Beck und Karin Zürcher trotz allem nicht nur die durch das Arbeitsgesetz vorgesehene Form von Arbeit, sondern noch dazu die emotionale Arbeit, die die infra zu dem macht, was sie ist. Zu einer Anlaufstelle, die einen sicheren Raum schafft, berät, vernetzt, mobilisiert. Die verhindert, dass Frauen in belastenden Situationen allein sind und sie dabei unterstützt, unabhängig von Geschlechterrollen, Herkunft oder Familienplanung ihr persönliches Potenzial voll auszuschöpfen und dadurch ein erfülltes Leben führen zu können. Im Namen des gesamten Vorstands bedanke ich mich herzlich bei der Geschäftsstelle für ihre äusserst engagierte, gründliche und empathische Arbeitsweise.
Jasmin Beck, Vorstandsmitglied